Montag, 23. März 2020

Zauberworte oder Buchstabensuppe






Was ist Sprache?
Seit ich in meiner Kindheit begonnen habe zu lesen, beschäftigt mich Sprache. Sie verzaubert mich. Und schon immer habe ich mich gefragt, warum den Wortdingen genau die Buchstaben zugeordnet sind, unter deren Namen wir sie kennen. Sie wissen schon. Wo kommt es her und was war zuerst? Und wo geht es hin? Sind doch nur Buchstaben. Dabei ist Sprache nicht unbedingt Voraussetzung für das Denken, doch erst durch sie sind komplexere Gedankengänge möglich. Ohne Buchstaben keine Wörter, und ohne Wörter fänden unsere Gedanken keinen verbalen Ausdruck.
Dabei ist das mit den Worten so eine Sache. Haben Sie schon einmal vor einem leeren Blatt Plapier gesessen?
Es heißt ja so schön, am Anfang sei das Wort gewesen, aber eigentlich ist da erst mal gar nichts. Nada. Es schaut mich an und schweigt. Gut. Ich warte. Und 2BH, für das diesjährige Motto war da zunächst nur ein Buchstabengewusel. Zugegeben, auf einem schönen Stück Textil. Und wie jetzt weiter? Die Antwort stand dann im Nudelregal. That’s RL!




Sprache ist Kreativität.
Mit dem Schreiben ist es ähnlich wie mit dem Zeichnen. Das erste Wort ist das Zauberwort. Mit ihm fängt alles an. Strich für Strich, Buchstabe für Buchstabe und Wort für Wort fügt sich das Gedankenbild endlich zusammen. Nach dem Grundgerüst kommt die Kür. Manege frei! Die Choreografie des Worttanzes bleibt dabei ganz mir überlassen. Ich kann den Zauberstab schwingen, Buchstaben in meinem Kopf herumwirbeln, sie zappeln lassen, neu zusammenfügen oder wieder wegwischen, sie dürfen Walzer oder Linedance tanzen. YEEHAW!
Ich kann mit ihnen meine Gefühle ausdrücken. Ich kann aus ihnen etwas Neues erschaffen, die Fantasie auf Reisen schicken oder in unbekannte Welten abtauchen, ganze Geschichtengebirge auftürmen, Menschen begeistern, kriminalistische Rätsel lösen, längst vergessene Zeiten neu aufleben lassen und sogar zurück in die Zukunft reisen. Ich kann Heldentaten begehen oder in Galaxien vordringen, die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat.
Ah ja, jetzt haben Sie mich ertappt. Wir sind bei Raumschiff Enterprise. Aber auch das wurde mal von irgendwem irgendwann irgendwo mit Worten erdacht und geschrieben.

Sprache berührt.
Worte sind also in der Lage, in unserem Geist ganze Welten zu erschaffen. Weil wir sie mit bereits Erlebtem verknüpfen, mit all unseren Wünschen, aber auch mit all unseren Ängsten. Worte können uns schmeicheln, uns beruhigen und im schönsten Fall unsere Liebe bekunden, aber sie können auch unsere Sorgen schüren, uns verunsichern und uns so sehr verletzen, wie nur Schwerter es können. Und diese Wunden verheilen oft ein ganzes Leben lang nicht. Doch sie können uns auch wiederum Trost spenden in schwierigen Zeiten, da sie uns zeigen, dass der Mensch, von dem sie stammen, Ähnliches erlebt oder gefühlt hat und uns versteht.
Sprache kann sogar messbare Stresssymptome auslösen. Wenn wir mit Worten konfrontiert werden, die unsere Scham verletzen oder ein persönliches Tabu berühren, fühlen wir uns unwohl, wir reagieren verärgert und lehnen unser Gegenüber ab. Nur durch ein „falsches” Wort. Aus diesem Grund sollten wir unsere Sprache immer mit Bedacht wählen, denn einmal daher Gesagtes lässt sich so schwer wieder einfangen wie ein frei gelassener Vogel.




Sprache manipuliert.
Sprache hat eine unverblümt beeinflussende Wirkung auf unser Denken. Die Worte, die uns begegnen, steuern täglich, was und wie wir denken, sie manipulieren unser Handeln und sie sind dafür verantwortlich, was wir wahrnehmen und definieren sogar unsere Erinnerungen. Das ist eine Tatsache, über die sich die Sprachforscher inzwischen einig sind.
In der Werbung ist Sprache essentiell. Produktnamen werden daher sorgfältig ausgesucht. Worte, wie beispielsweise „Kaffee”, können im Gehirn den passenden Geruch wachrufen. Ausgetüftelte Produktbeschreibungen sind dazu auserkoren, beim Verbraucher Vertrauen zu assoziieren. Ein maßgeschneiderter Markenname, Verzeihung, natürlich ein „Brand”, transportiert Inhalte, Philosophie und Erfolg eines Unternehmens. Sie merken, ich mag diesen Ausdruck nicht so gerne, wir leben ja auch nicht auf der Ponderosa.
Ob diese Art der Manipulation gut oder schlecht zu bewerten ist? Nun ja, entscheiden Sie selbst, schließlich verkaufen Sie auch etwas, egal ob Nudeln oder Schöngeistiges.

Sprache ist (un)persönlich.
Da gibt es eine sprachliche Besonderheit in der Kommunikation, die mich schon länger stört. Die Vermanung. Bitte was? Ja. Denken Sie mal über das Wörtchen „man” nach. Drei Buchstaben, die unpersönlicher nicht sein könnten. Wer ist eigentlich der die das Man? Man existiert im Grunde genommen gar nicht, es ist schlicht und ergreifend einfach nicht real. Ich, Du, Er, Sie, das alles macht Sprache unpersönlich, und das will man, Pardon ich, du, er, sie, wir, nicht. Also greifen wir in die Unpersönlichkeitstrickkiste. Probieren Sie mal aus, die drei Buchstaben für nur einen Tag aus Ihrem Wortschatz zu streichen. Es ist gar nicht so einfach.




Sprache ist Kultur.
Die faszinierendste Erkenntnis, die ich über Sprache erfahren habe, ist die unterschiedliche Wahrnehmung in der jeweiligen Muttersprache. Je nachdem, welche Sprache wir sprechen, sehen wir die Welt bis zu einem gewissen Grad auf unterschiedliche Weise. Bestes Beispiel hierzu ist das grammatikalische Geschlecht, die Verknüpfung des weiblichen oder männlichen Artikels mit dem jeweiligen Begriff. Es kann den Objekten in unserer Vorstellung männliche oder weibliche Züge verleihen. Weibliche Gabeln und männliche Brücken. Wer hat’s erfunden? Ach, hätten wir doch bloß nie über den Turmbau zu Babel nachgedacht.

Eine wiederum völlig andere Geschichte ist die Sprache der Aborigines, die weder links, rechts, davor oder daneben kennt, sondern Begrifflichkeiten unter Zuhilfenahme von exakten Himmelsrichtungen und Koordinaten beschreibt, und das sogar bei Nacht. Faszinatiös südlich. Wer also eine neue Sprache erlernt, erlernt automatisch eine neue Denkweise. Oh la la.




Sprache ist veränderlich.
Jede Zeitepoche hat ihre eigene Sprache. Niemand würde heute mehr in der dritten Person reden, und längst sind Anglizismen so gebräuchlich wie unser täglich Brot. Eine andere Sache sind die Abkürzungen. Ich habe einige davon hier im Text versteckt.
Ich komme da nicht mehr mit. Liegt es daran, dass wir uns nicht mehr F2F gegenüberstehen? Verroht unsere Sprache? Liegt es an der Zeit, fehlt uns gerade diese, ist es einfach hip oder bin ich zu alt? Ich benötige inzwischen ein Lexikon der digitalen Abkürzungen, sonst verstehe ich in einem Social Media Post nur die Hälfte vom Ganzen. Und weil das so ist, behaupte ich jetzt einfach mal, vervollständigen wir unsere neukryptische Sprachsymbolik mit kleinen Bildchen, den Emoticons. Echte Gefühle? Nö. Es hat uns nur sprichwörtlich die Sprache verschlagen. Ist auch eigentlich genau genommen gar nicht viel sozial drin in Social Media. Ja mei.

Oder haben wir über Jahrhunderte hinweg einfach nur einen Umweg gemacht, und die alte Keilschrift kommt wieder in Mode? Werden wir irgendwann nur noch in Nullen und Einsen kommunizieren? Irgendwie beängstigend. Wir bewegen uns in Riesenschritten hin zu einer Kommunikation, die zunehmend von künstlicher Intelligenz beherrscht wird. Beim Discounter spricht der Backautomat mit mir. Das Produkt wird gerade extra frisch für mich gebacken. Woher kennt der mich? Alexa kann ich fragen, warum es nachts kälter ist als draußen. Sie weiß es. Aber sie versteht (noch) keine Ironie. Und mit ihr Kaffee trinken gehen kann ich auch nicht. Benjamin Bergen, der am Metapher Program in den USA forschte, behauptet: Wenn wir einem Computer genau dieses menschliche beibringen könnten, wäre das ein großer Schritt zur künstlichen Intelligenz. Ist das unser Ziel?

Die Schnelllebigkeit der Sprache hat auch andere Auswirkungen. Immer weniger Menschen legen Wert auf handschriftliche Korrespondenz. Wir verlieren die Herrschaft über unsere Hände und handeln uns statt dessen lieber eine Daumenarthrose ein. Jetzt verrate ich Ihnen mal was: Ich schreibe wieder mit einem Füllfederhalter. Es ist ein wundervolles Schreibgerät, das ich von meinem Vater geerbt habe, und ich liebe es, mit der weichen Feder über das Papier zu tanzen. Ich habe einfach das Gefühl, jedes schöne Wort bekommt dadurch Flügel und beginnt zu leben. Und ob Sie es glauben oder nicht, ich schreibe immer noch alle meine Texte von Hand vor.




Sprache ist Freude.
Die schönsten Stilblüten schreibt immer noch das Leben selbst. Oder die Autokorrektur des Schreibprogramms. So sprach in Kindertagen eine Freundin keck zu mir: „Ich bin dir hochhaus überlegen”. Herrlich, nicht wahr? Ich vergesse es sicher nie mehr. Mein Nachname hat ebenso schon die kühnste Wortakrobatik erlebt. „Frau Seereise” hat mir dabei von allen am Besten gefallen. Auch WhatsApp ist immer für verbale Buchstabenpurzelbäume gut. So hat mir doch gerade erst mein lieber SO geschrieben, er habe mich „ganz Rolle lieb”. Ich fand es exorbitant komisch. ROFL. Es bleibt von jetzt an fest verankert in meinem Sprachgebrauch. Tja, so geht’s.

Und so schreibe ich auch weiterhin kleinere Romane unter meine Bilder und widme mich mit Leidenschaft poetischen Produktbeschreibungen. Ich erzähle eben einfach gerne Geschichten. Und das nicht nur mit Worten. Y? Weil es mir Freude macht.





Im nächsten Jahr hänge ich vielleicht nur Buchstaben an den Weihnachtsbaum, ein paar habe ich ja hier wiedergefunden. Und sollten Ihnen 2020 mal die Worte fehlen, sei Ihnen eine Tüte Buchstaben nebst wärmender Halshülle mitgegeben. Zum Üben, zum Rausputzen, zum Jonglieren, zur Meditation, für warme oder kalte Wintertage, oder ganz einfach nur zum Spaß. HF.
Die Suppe dürfen Sie auch bitte schön selbst auslöffeln. Oder auch nicht. Dann machen Sie eben einen Buchstabensalat daraus. Wenn Sie verstehen, was ich meine.
Doch bevor ich mich noch um Kopf und Kragen schreiben, wünsche ich Ihnen ausgesprochen unbeschreiblich herrliche Festtage. Binden Sie doch ein paar kleine Wortbotschaften an Ihre zauberhaften Päckchen und unterhalten Sie sich gut. Mit den Menschen, die Ihnen am Herzen liegen oder mit einer guten Geschichte. Vor allem aber, bleiben Sie im Gespräch.
Mon Dieu! Was für ein Jahr. Ich sage Danke für die Worte. Die gesagten und ungesagten, die lauten und leisen und natürlich die neu dazugelernten. Nicht zu vergessen die kunterbunten Geschichten und Projekte, die zusammen mit Ihnen gewachsen und groß geworden sind.
CU. See you. Ich meine natürlich: Wir sehen uns im neuen „JA” 2020. Wenn Sie mögen, gerne von Angesicht zu Angesicht. Oder auf einer Seereise. Ahoi!



Von Herzen, Martina Seresse