Donnerstag, 30. April 2020

Corona und die Krone der Schöpfung

Ich habe das coronare Erschöpfungssyndrom. Ja, Sie lesen ganz richtig. Nein, ich habe kein Problem mit meinen Herzkranzgefäßen, vielmehr habe ich nur gerade mehr als genug davon, von Ignoranten, Zynikern, Egomanen und Verweigerern mit Gejammer und Grundrechtsdebatten zugemüllt zu werden, weil sie mal ein paar Wochen die Füße still halten und Verhaltensweisen der besonderen Art treffen müssen. Damit können wir doch auch kreativ umgehen! Und bevor Sie jetzt laut aufschreien: Ja, ich sehe die wirtschaftlichen Folgen, die vielen bedrohten Existenzen, und ich habe durchaus auch große Sorgen. Ich weiß nicht, wie oder ob es überhaupt geschäftlich für mich weitergehen wird. Ich habe noch einen Elternteil jenseits der 80er und einen Bruder, der in einer Einrichtung für geistig behinderte Menschen lebt. Beide gehören somit zur besonders sensiblen Risikogruppe, die ich gerne schützen möchte.
Ich erlaube mir ganz oft nicht, noch weiter darüber nachzudenken, denn dann möchte ich manches Mal einfach nur ausbrechen und vor dem Säbelzahntiger davonlaufen. Dann verlässt auch mich die Kraft, weiter zu vertrauen, zu hoffen und zu glauben. An was auch immer.
Aber an den guten Tagen sage ich mir: Das schaffst du auch noch. Und ich bereite mich darauf vor, mich noch weiter beschränken zu müssen. Vielleicht noch mehr von dem wegzugeben, was ich brauche. Das Wort Zukunft gibt es gerade nicht in meinem geistigen Vokabular. Gut. Lebe ich eben einfach nur jeden einzelnen Tag. Im Heute. Im Jetzt. Schritt für Schritt. Ganz vorsichtig. Und mit Bedacht. Auch wenn ich manchmal nicht weiß, welcher Wochentag gerade angesagt ist, doch es gibt ja diese smarten Geräte, Sie wissen schon, die haben nämlich eine Kalenderfunktion.

Wo hört Freiheit auf und wo fängt freiheitliches Denken an?
Viele von uns sind bereit, einen Teil der eigenen Freiheit und des wirtschaftlichen Wohlergehens für das Wohl Aller zurückzustellen, sie suchen andere Mittel und Wege, wie sie damit umgehen wollen und können. Und nein, ich bin nicht naiv. Es ist mir sehr wohl bewusst, dass nicht alle zurückstecken werden, dass es weiter genug von denen geben wird, die sich die Taschen voll machen, sich Bonis und Dividenden auszahlen oder die sich entspannt zurücklehnen, weil ihre Altersversorgung gesichert ist. Und ich denke sehr reflektiert darüber nach, dass wir in irgendeiner Form wieder alles zurückzahlen müssen.
Aber seien wir doch mal ehrlich: In Bezug auf unsere Maßnahmen gegenüber derer anderer Länder, und da müssen wir nur mal eben über die Grenze schauen, durften wir in den vergangenen Wochen sehr viele Freiheiten geniessen. Und viele haben vieles davon sehr freizügig für sich ausgelegt. Nachzulesen übrigens auf den Social Media Accounts unserer Landesregierung, hier brüsten sich manche ganz offen und voller Stolz des zivilen Ungehorsams, und dies sowohl auf vergangene als auch auf zukünftige Handlungen bezogen. Die das machen, sterben eben einfach nie aus. Das ist dann auch die einzige gute Nachricht daran. Die Menschheit überlebt. Irgendwie. Die Dummheit leider auch.

Ich möchte nicht darüber nachdenken, was sein könnte, wenn wir einen Rückschlag hinnehmen müssen, weil wir zu früh zu forsch vorangeschritten sind. „Fataler Fehler” werden die einen schreien. „Verantwortungslos, die Schulen so früh zu öffnen” könnten die anderen rufen. Ich habe die Schlagzeilen schon vor Augen.
Mich beschleicht dabei der ungute Verdacht, dass es genau die sein werden, die lediglich fokussiert auf ihre eigene Person, gerade so demonstrativ überdeutlich ihr Grundrecht auf Freiheit zitieren. Und die vor noch gar nicht langer Zeit laut nach einer einheitlichen Marschrichtung verlangt haben. Doch neben der Freiheit gibt es auch das Grundrecht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit. Natürlich müssen wir darüber diskutieren, was wir jeweils darunter verstehen. Geht es uns nur um unsere Physis, also die direkte Bedrohung unserer Gesundheit durch die Viruserkrankung, oder stellen wir vielleicht doch unsere Psyche oben an? Ich denke, es ist richtig, dass wir beides im Auge behalten.
Der medizinische Umgang mit der Erkrankung war und ist uns anscheinend in großen Teilen noch unbekannt, so dass wir aktuell nicht die passenden Instrumente der Behandlung zur Verfügung haben, und unsere seelische Gesundheit wird in direkter und indirekter Weise davon beeinflusst. Die Erschwernis der Situation liegt wohl darin, dass wir in diesem Setting überwiegend, wenn nicht sogar gänzlich ungeübt sind. 
Ich selbst habe in den vergangenen Jahren zunehmend mit einer Pandemie gerechnet, wenngleich ich natürlich nicht darauf vorbereitet war. Möglich, dass es an meinem Interesse für Biologie und Wissenschaft liegt oder ganz einfach an meiner generellen Besorgnis, wie es mit uns und der Welt weitergehen soll.
Wenn Sie mich persönlich fragen, wie wir vorgehen sollen: Ich weiß es schlicht nicht. So einfach. Und auch wieder nicht. Da haben wir ihn schon, den berühmten Zwiespalt. Hier bedacht vorzugehen, gleicht einem Balanceakt.

Ich leiste mir die „Freiheit”, vieles in Frage zu stellen, immer wieder und ausgiebig über alles nachzudenken und erst dazu Stellung zu nehmen, wenn ich mich gut informiert habe. Und ich bin bereit, meine Meinung zu ändern, den Fokus neu zu justieren und flexibel zu bleiben. Fragen stehen zu lassen. Auf manche von ihnen werden wir nämlich womöglich niemals eine Antwort finden.
Und also Nein, ich fühle mich nicht in meiner Freiheit eingeschränkt. Vieles fehlt mir, sicher, aber Freiheit geht für mich mit Verantwortung einher, und diese wird genau von den Menschen nicht übernommen, die jetzt unreflektiert nach ihren Grundrechten rufen, aber gleichermaßen nicht bereit sind, im Rahmen ihrer Eigenverantwortung die Grundrechte anderer zu respektieren.

Haben wir das Recht auf Fehlerfreiheit?
Ich frage mich, ob wir die eigene Unsicherheit nicht auch anderen zugestehen müssen. Und wenn wir deren Fehlverhalten kritisieren, müssen wir dabei auch unser eigenes Fehlverhalten im Auge behalten. Den Abstand, den wir vielleicht unbewusst doch nicht eingehalten haben, den Gang nach draussen, der nicht notwendig war, das Gespräch mit dem Nachbarn oder der Verkäuferin, das doch zu lange ausgefallen ist, der Besuch bei Verwandten oder Freunden, der eigentlich ausbleiben sollte, das aggressive Verhalten an der Kasse, weil wir die Geduld verloren haben oder weil uns unsere Angst gesteuert hat.
Wir möchten Garantien. Was passiert Wann Wie Wozu und Wie lange? Und wir wollen Perfektionismus. Aber wir leben nicht in einer perfekten Zeit, und schon gar nicht in einer perfekten Welt. Doch haben wir uns evolutionsbiologisch nicht genau durch Fehler, Lernen und neues Verhalten zu dem modernen Menschen weiterentwickelt, der wir sind? Wir sind nur noch nicht fertig, und weit davon entfernt, perfekt zu sein. Und werden es vielleicht auch nie sein. Irgendwie beruhigend.

Sind wir die Krone der Schöpfung?
Nein. Mutig, dass ich das sage, nicht wahr? Ich bin der Meinung, wir sind lediglich ein „Teil” der Schöpfung, und als das sollten wir uns begreifen. Wir sind schön, aber so wie alles um uns herum auch. Und alles zusammen ist wundervoll. Und verstörend zugleich. Alles ist im Wandel, nichts ist auf Dauer verlässlich. Es gibt Leben und Vergänglichkeit, und wir lernen gerade, dass wir eben nicht die Puppenspieler in diesem Theater namens Leben sind. Wir fühlen uns klein und verletzlich. Wir befinden uns plötzlich auf gleicher Höhe mit allen anderen Lebewesen, deren Lebensraum wir zunehmend beschränken oder schlimmstenfalls sogar ganz wegnehmen. Haben wir wirklich geglaubt, dass dies ganz ohne Folgen bleiben wird? Und werden wir daraus lernen?

Der Corona-Virus. Was für ein Wortspiel. Ein Virus, der die Menschheit, die sich gemeinhin als die Krone der Schöpfung betrachtet, in ihre Grenzen verweist. Sicher, mit manchem können wir friedlich coexistieren, an einiges werden wir uns jedoch anpassen und anderes möglicherweise wieder aufgeben müssen. Solange wir auf diesem einzigartigen Planeten existieren, werden wir damit umgehen müssen, dass wir nicht alles beherrschen können und dürfen. Doch dazu müssten wir ja unseren Autopiloten verlassen und das Schiff auf einen neuen Kurs bringen.
Und Loszulassen ist schon gar die schwerste Übung überhaupt. Und so möchte ich mit den Worten des französischen Literaten André Gide schliessen: „Neue Länder entdeckt man nur, wenn man bereit ist, den Strand für lange Zeit aus den Augen zu verlieren. ”

 Ahoi!


Herzlichst, Martina Seresse